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Anekdote Roger Schawinski

«Es war fast schon eine mystische Zeit»

Der Freudenbergpionier ist einer der coolen mit Abschlussjahrgang ’64. Am Telefon mit «m.» erzählt er von seiner Zeit als Schüler.

Empfehlung  der Redaktion für ein reales Erzähl-Erlebnis: zügig lesen in selbstbewusstem züritüütsch.

«Damals – da war die Handelsschule noch nigelnagelneu — gab es den ‹Handeliball›: Jede Abschlussklasse dekorierte ein Schulzimmer. Wir, die 4b, machten ein Gefängnis und nannten es ‹Jail House Rock› – als Referenz zu Elvis, den wir feierten. Die Anfang 60-er Jahre waren grossartig. Elvis war schon da, die Beatles und die Rolling Stones waren grad aufgekommen. Ray Charles beeinflusste mich besonders und führte mich in diese Musik ein. Mein damaliger Kollege Max Sorg, grosser Musikfan und auch selber ein hochtalentierter Pianist, der in einer Band spielte, gab mir manchmal seine Platten – widerwillig muss ich sagen – damit ich sie auf Tonband aufnehmen konnte. Für eigene Platten hatte ich ja kein Geld.

Wenn ich das Schulhaus heute anschaue – über 60 Jahre später – sieht es noch genau gleich aus. Das spricht für die Architektur von Schader und die Qualität des Bauwerks. In dieser modernen Umgebung hatten wir Schule. Unsere Lehrer hingegen waren oft nicht so modern.

Unser Klassenlehrer, Herr Unterwegner – der wurde uns zugeteilt – war Lehrer für Stenografie und Maschinenschreiben. Er war ganz klein und hatte deshalb den Spitznamen ‹Zapfen›. Ich war zu dieser Zeit ein schlechter Schüler, muss ich sagen. Ich war an vielen ganz anderen Dingen interessiert als was auf dem Lehrplan stand. So wurde ich auch mal provisorisch. Worauf mein Vater, ohne dass ich es wusste, zu diesem Zapfen ging – in der Hoffnung das würde meinen Widerstandsgeist wecken – und ihm empfahl: ‹Sagen Sie Roger, er sei unfähig für diese Schule und wird das niemals schaffen.› Was dieser Lehrer, von dem ich jetzt nicht wahnsinnig viel hielt, dann auch tat.

Mein Vater hatte mit diesem Manöver sein Ziel erreicht. Er hatte mich richtig eingeschätzt. Ich hätte auch kapitulieren können, aber er verstand mich: Diesem Zapfen wollte ich’s zeigen. Von da an lief es dann locker in der Schule. 

Mein Deutschlehrer Max Weber auf der anderen Seite, der war ein Mann von Welt. Er war schon in Frankreich gewesen und hat uns 15-, 16-jährigen Knaben, es gab damals noch keine gemischten Klassen, in die Sexualität eingeführt – via Literatur! Wir waren völlig überrascht. Für die damalige Zeit war er total offen. Er suchte Stellen aus literarischen Werken raus und liess uns darüber diskutieren. Dadurch nahm er eine wichtige emanzipatorische Rolle für uns ein. Ich schätzte ihn sehr und hatte noch jahrelang mit ihm Kontakt.

Bei einem Klassentreffen, nochmals einige Jahre später, als ich gerade von Max Weber schwärmte, sagte mir ein ehemaliger Mitschüler, der Weber hätte nur diejenigen gefördert, die sich interessierten und gut waren. Das stimmte. Unter diesem Aspekt war er kein guter Lehrer gewesen. Aber ich und Reini Meier, mein engster Freund damals, konnten davon profitieren. Wir waren nie die gewesen, die einfach unkritisch das lernten, was uns vorgesetzt wurde. Entsprechend blieben wir durch die Schulzeit hindurch interessiert an der Welt. Das hat Max Weber gespürt. Wir wurden beide Journalisten, als einzige in unserer Klasse, wobei unser ehemaliger Deutschlehrer keine unwichtige Rolle spielte.

Reinhard Meier wurde NZZ-Korrespondent, und das in vielen wichtigen Städten der Welt. Washington DC, Bonn, Moskau… In Argentinien hat er beim antinazistischen Tageblatt gearbeitet. Anfangs siebziger Jahre habe ich durch ihn die Möglichkeit erhalten, in Argentinien und Chile fürs SRF einen Film zu machen. Gemeinsam mit Reini Meier bin ich dort rumgereist. Zufälligerweise ist zu diesem Zeitpunkt der Ex-Diktator Perón aus dem Exil zurückgekommen. Den holten wir prompt am Flughafen ab. Das war eine grossartige Zeit. Und die entstandenen Dokumente sind heute noch vorhanden.

Inzwischen leben wir 200 Meter voneinander entfernt. Wir haben immer noch Kontakt, unter anderem durch unsere Peer-Gruppe. Zu acht treffen wir uns jedes Jahr am 1. April und gehen zusammen essen. Wir nennen uns ‹4b›, fühlen uns als die coolen von damals, die sich nach 60 Jahren immer noch treffen. Es ist toll, zu sehen, wie sich die Leute entwickelt haben. Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis. Da ist kein Neid, keine Eifersucht. Wir reden auch heute noch über die Lehrer, Herr Stössel, Weber, Unterwegner… die leider ja schon tot sind. Aber für uns sind sie immer noch lebendig. Das waren prägende, tolle, aber auch unschuldige Jahre – fast schon eine mystische Zeit, die wir erlebten. Und viele von uns haben tolle Karrieren gemacht und schauen zurück mit viel Zufriedenheit und wenig Bedauern.»  

Zur Person

Roger Schawinski ist Journalist, Autor und Medienunternehmer und gilt als Pionier des Privatradios. Unter anderem gründete er das Konsumentenmagazin Kassensturz, das erste Schweizer Privatradio Radio24 und den ersten Schweizer Privatfernsehsender TeleZüri. Heute ist er Geschäftsführer des Radio 1.

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