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Interview Anil Özdemir

Mehr Moll für die Schweizer Konzertszene

Anil Özdemir (M05) sang während seiner Zeit an der Kantonsschule
Enge am liebsten melancholische Lieder. Heute organisiert er Events
im legendären Jazzclub Moods.

Text: Céline Schwarz (M20, celine.schwarz@ken-ve.ch), Bild: Ela Çelik

Seit dem Zoom-Treffen mit Anıl Özdemir (M05) ist die Liste meiner Lieblingssongs auf Spotify voll mit neuen Liedern – «neu» – zumindest für mich. Die in Berlin und Istanbul ansässige İpek İpekçioğlu weicht schon seit über 10 Jahren die Grenzen innerhalb der elektronischen Musikszene auf und geniesst, ebenso wie die türkische Band İnsanlar, international grosse Bekanntheit. Die Istanbuler Band Baba Zula wiederum verbindet westlichen Rock mit orientalischer Musik. Ihr Stück «Bir Sana Bir De Bana» wurde auf Spotify über 12 Millionen Mal gestreamt. 

So unterschiedlich die für mich neuen Tracks auch sind, eines haben sie alle gemeinsam: Sie leben von melancholischen Mollklängen.

Und genau diese Töne sind es, die Anıl Özdemir seit seiner Kindheit begleiten und bewegen. Und genau diese musikalischen Elemente, die entlang der Seidenstrasse wurzeln, will er dem Publikum im Moods mit der Konzertreihe «The Psychedelic Music Explosion» unter dem Label Jazzhane zugänglich machen. «Hane» ist türkisch und bedeutet «Haus», die Jazzhane ist also das «Jazzhaus». 

Die Musik, die du als Schüler mit der  Querflöte spielen und üben musstest, interessierte dich nicht gross, schriebst du in einem Text für das Onlinemagazin «Babanews». Warum nicht?

An Musik war ich grundsätzlich schon immer interessiert. Allerdings merkte ich, dass ich mit den hiesigen Liedern, mit denen wir uns in der Schule mehrheitlich befassten, nicht viel anfangen konnte. So erging es mir auch im Gesangsunterricht an der Enge. Die Moll-Tonarten wiederum, wie sie etwa in der türkischen Volksmusik gespielt werden und mit denen ich aufgewachsen bin, sprachen mich viel direkter an. Diese Unterscheidung ist zwar sehr oberflächlich, fasst für mich aber das Wesentliche zusammen. Die Kultur der Heimat prägt uns schon bevor wir ein Bewusstsein dafür entwickeln. 

Wie bist du darauf gekommen, Jazzhane zu initiieren?

Das Eventmanagement gehört seit dem Gymi zu meinen Interessen. Zum Beispiel hatte ich gemeinsam mit Dave Shilling und Peter Strickler die Maturparty 2005 organisiert. Mit der Zeit wuchs auch meine Leidenschaft für alle möglichen Arten von Musik, vor allem für Jazz, Flamenco, Mischungen aus verschiedenen Genres und ethnische Musik. Finaler Auslöser war dann wohl das Buch über türkische psychedelische Musik «The Turkish Psychedelic Music Explosion» von Daniel Spicer. 

Es inspirierte mich dazu, in der Türkei und deren umliegenden Ländern beliebten Künstler*innen in Zürich eine Plattform zu geben. Musiker*innen wie Gaye Su Akyol, Aynur Doğan oder Lalalar treten im Moods und an Festivals wie dem Bad Bonn Kilbi zwar schon länger auf, ihre Konzerte sind aber vielen Menschen oft nicht zugänglich.

Hier setzt du an?

Genau. Mit der Jazzhane erreiche ich ein heterogeneres Publikum. Einerseits türkische, kurdische, persische, griechische, armenische, albanische, serbische, syrische, arabische, indische Communities, die stolz sind, dass die Musik aus ihrer Heimat gezeigt wird, im Moods mitten in Zürich. 

Andererseits erreiche ich gerade auch wegen der bekannten und zentralen Location andere Gruppen als ein türkisches Lokal in der Agglomeration. Für alle Interessierten, die entweder keinen Bezug zu dieser Musik oder keinen zur Location haben, will ich einen gemeinsamen Zugang schaffen. 

Durchmischung verfolge ich auch bei den Künstler*innen. Nicht nur im Radio, sondern auch an vielen der Konzerte und Open Airs der Schweiz findet Gatekeeping statt. Würden mehr ethnisch- und gendergemischte Gremien entscheiden, würde automatisch eine breitere Diversität erlangt – auch im Nischenbereich. 

Wie kommt die Auswahl der Künstler*innen bei Jazzhane zustande?

Im Moment liegt der Fokus auf Musik, die entlang der Seidenstrasse erschaffen worden war und heute wiederentdeckt und neuinterpretiert wird. Das eröffnet ein breites Feld. Ich recherchiere gerne und verliere mich in den Tiefen des Internets auf der Suche nach passenden Künstler*innen. Die finale Entscheidung treffe ich dann gemeinsam mit dem Moods. 

An eurem ersten Event war eine Lesung über die Entstehung der psychedelischen Musik in Anatolien Teil des Programms. Warum psychedelisch? Woher kommt das?

In der Türkei gab es in den 60er bis 80er Jahren eine regelrechte psychedelische Explosion. Rocker aus der Türkei mit langen Haaren und lustigen Schnäuzen verbanden damals westliche psychedelische Musik mit anatolischen Klängen.

Von der amerikanischen Band Khruangbin habe ich vor ein paar Jahren ein Lied gehört, das ich sehr geil fand und das sich für mich fast türkisch anhörte. Als Kind hörte ich die Musik des psychedelischen Anadolu Rocks, von Cem Karaca bis zu Selda Bağcan. Deshalb habe ich bei psychedelischer Musik direkt das Gefühl, dass das anatolisch geprägt sei, selbst wenn es westlich sein könnte.

Immer wieder werden westliche Künstler*innen kritisiert, weil sie sich Elemente aus anderen Kulturen aneignen. Wie ist das mit der anatolischen psychedelischen Musik?

Seit jeher migrierte Musik. Nur heute in der globalisierten Welt noch weit mehr und schneller als früher. Da entdeckt beispielsweise ein DJ in Jordanien ein Stück, das er kurzerhand resampelt und dann tanzen Leute, vielleicht in einem Pariser Club, zu diesen neu erschaffenen Tracks. Und genau das passiert jetzt auch mit den psychedelischen Tönen. Die psychedelische Musik im Allgemeinen und die türkische psychedelische Musik im Speziellen erleben eine Renaissance. Dadurch gibt es auch in der Türkei wieder vermehrt Bands, die sich ihrer traditionellen Klänge besinnen. Gaye Su Akyol ist genauso mit der Musik von Selda Bağcan wie der von Kurt Cobain aufgewachsen und kombiniert verschiedene Einflüsse in ihrer zeitgenössischen Interpretation des psychedelischen Rock’n’Rolls. Diese Vorteile sehe ich – gleichzeitig finde ich die Diskussion um kulturelle Aneignung berechtigt und wichtig.

Bist du auch politisch motiviert?

In erster Linie geht es mir um grossartige Live-Musik und spannende Veranstaltungen. Wenn diese aber dazu führen, dass Gäste mit multi-ethnischen Hintergründen aufeinandertreffen und wir alle durch den Austausch offener und vorurteilsloser werden, dann ist das wunderschön. 

Welche Herausforderungen stellen sich dir bei einem so heterogenen Publikum und so unterschiedlichen Künstler*innen?

Menschen mit Privilegien sind im öffentlichen Raum stärker vertreten. Um ein durchmischtes Panel zusammenzustellen, müssen Kurator*innen mehrere Extrameilen laufen. Sonst besteht eine grosse Gefahr, dass sie bestehende Strukturen übernehmen und diese sogar stärken. Bei der Auswahl der Künstler*innen ist das nicht anders. Deshalb sind die Konzerte von Jazzhane auf verschiedenen Ebenen von der Projektleitung hinter den Kulissen bis zu den Künstler*innen auf der Bühne sehr divers.

Wie lief der erste Anlass von Jazzhane genau ab?

Der Abend übertraf meine Erwartungen und war sehr transformativ. Die Stimmung war wunderschön, eine regelrechte Achterbahnfahrt. Nach einer Lesung mit Daniel Spicer über die Ursprünge der türkischen psychedelischen Musik, spielte die Band İnsanlar ein Konzert. Darauf folgte eine Afterparty mit İpek İpekçioğlu. Bei der Ansage begrüsste ich die Gäste zuerst auf Türkisch und dann nochmals auf Englisch.

Weshalb?

Das zeigt den Künstler*innen sowie dem durchmischten Publikum Respekt und vermittelt eine Selbstverständlichkeit: Unsere Gesellschaft ist divers. Ich freue mich genauso auf das FCZ Spiel am Wochenende, wie auf ein psychedelisches anatolisches Konzert, das schamanistischen Techno-Folk spielt. Zürich vereint verschiedene Kulturen – und jede*r kann verschiedene Identitäten und Vorlieben bei sich selbst vereinen.

Du erwähntest zu Beginn deine Verbundenheit mit der melancholischen Musik aus dem Osten. Wie ist es, diese Intimität mit einer Menschengruppe zu teilen, mit Leuten, die der Musik vielleicht weniger Bedeutung beimessen?

Die Kunst, und die Lyrik im
Speziellen, bearbeiten die Freude und den Schmerz ganzer Gesellschaften. In türkischen Songtexten geht es etwa oft um Liebe und Erotik – sogar in der kommerziellen Popmusik. Es existieren aber auch sehr viele sozialkritische und revolutionäre Lieder, mit denen ich auch aufgewachsen bin. 

Die Songtexte zu übersetzen ist zwar schwierig, doch die kraftvollen Inhalte können auch eine gewisse Empathie auslösen, wenn man keinen direkten Zugang zu ihnen hat – davon bin ich überzeugt. Beim Flamenco, auch eine Nischenmusik, merkt man schnell und ohne Spanischkenntnisse, ob es sich um ein fröhliches oder um ein trauriges Klagelied handelt.

Kommen wir noch auf deine Zeit an der Enge zu sprechen. Gingst du damals viel in den Ausgang und an Konzerte?

Ich war eher Spätzünder. Während der Uni bin ich viel in den Ausgang gegangen. Im Moment gehe ich auch wieder öfter – allerdings bin ich heute wählerischer als früher.

Wie schaust du auf deine Zeit an der KEN zurück?

Ich bin sehr gerne in die Schule gegangen und habe gute Freundschaften geschlossen. Gewisse Lehrpersonen waren für mich prägend, wie zum Beispiel unsere Deutschlehrerin Zumbühl. Wie wir mit ihr Bücher gelesen und Aufsätze geschrieben haben beeinflusste stark, wie ich Dinge analysiere. Sie empfahl mir damals den Kabarettisten Serdar Somuncu und meinte, ich sollte mir eine Karriere als Kabarettist überlegen. 

Und was hast du nach der Matur tatsächlich gemacht?

Ich studierte Wirtschaft an der Universität Zürich, gleich danach Strategie und Internationales Management an der HSG. Anschliessend war ich als Unternehmensberater tätig und kehrte an die Universität Zürich für mein Promotionsstudium zurück. Jetzt leite ich das Kompetenzzentrum für Sportadministrationsforschung. 

Was wird da erforscht?

Wir haben eine duale Perspektive auf das Thema Sport. Wir wollen einerseits den Sport aus einer ökonomischen, betriebswirtschaftlichen, aber auch soziologischen oder psychologischen Sicht besser verstehen und andererseits wollen wir die Welt besser verstehen, indem wir den Sport als Labor betrachten. In der Sozialwissenschaft ist es im Vergleich zu den Naturwissenschaften schwieriger, kausale Zusammenhänge zu erforschen. Die Fragestellung «Arbeiten Chirurgen unter Druck besser? Und führt das zu mehr Lohn?» kann man nur schwer im OP-Saal analysieren. Stattdessen betrachten wir die NBA, die nicht nur einheitliche Regeln haben, sondern auch eine riesige Datenverfügbarkeit aufweisen. Und tatsächlich zeigt sich: In der «Clutch-Time», einer Drucksituation am Ende eines Spiels, leisten ein paar Superstars nochmal ausserordentlich mehr als alle anderen und verdienen auch entsprechend mehr. Mit dem gleichen Sport-als-Labor-Ansatz können etwa Diskriminierungen untersucht werden.

Als letzte Frage: Was sind deine Ziele für Jazzhane?

Ich bin offen! Im Moment fokussieren wir uns mit dem Moods auf die «Psychedelic Music Explosion». Die Musik entlang der Seidenstrasse ist sehr divers, die Motive vermischen sich. Entsprechend sollen auch Konzerte von persischen, indischen, syrischen und griechischen Musiker*innen stattfinden. Ein Festival mit Musik entlang der Seidenstrasse fände ich wunderschön.  

Nächste Events

 Mehr Infos gibt’s unter jazzhane.com

Verein Ehemaliger der Kantonsschule Enge | Steinentisschstrasse 10 | 8002 Zürich