Interview Thomas Jung

«Vielleicht wird man einmal von der ‹Ära Jung› sprechen»

Als Kantonsbaumeister ist Thomas Jung (M84) für die öffentlichen Bauten in Zürich zuständig – etwa auch für die anstehende Sanierung der Kantonsschule Enge.
Im Interview erzählt Jung von den Plänen auf dem Freudenberg, seine Erinnerungen an die Schulzeit und wie es ist, unter dem Grünen Baudirektor Martin Neukom zu arbeiten.

Interview und Bilder: Corsin Zander (M07, corsin.zander@ken-ve.ch)

Herr Jung, im vergangenen Oktober wurde bekannt, dass bis 2032 die Gebäude von vier Zürcher Kantonsschulen umgebaut werden – darunter auch die Kantonsschule Enge. Die Nachricht kam selbst für die Rektoren dieser Schulen überraschend. War das ihre Idee, in so kurzer Zeit gerade vier Schulhäuser umzubauen?

Das Projekt wurde schon vor meiner Zeit als Kantonsbaumeister vorbereitet. Seit ich im März 2019 die Leitung des kantonalen Hochbauamts übernommen habe, bin ich in das Projekt involviert. Die Idee bei der Zusammenarbeit mit der Universität Zürich ist es, ein Rochadeobjekt auf dem Irchel zu bekommen, über das wir als Schulprovisorium verfügen können, während wir vier Kantonsschulen in der Stadt Zürich umbauen und erneuern. Und ein solches Objekt haben wir mit dem Institut für Chemie am Standort Irchel gefunden. 

Sie haben es angesprochen, seit knapp einem Jahr sind Sie nun Kantonsbaumeister. Inwiefern möchten sie den kantonalen Bauten Ihre Handschrift verleihen?

Das will vermutlich jeder Kantonsbaumeister. Aber ob es gelungen ist, eine Handschrift zu hinterlassen, das lässt sich nur im Nachhinein beurteilen. Vielleicht wird man einmal von der «Ära Jung» sprechen. Mir persönlich ist das Streben nach einer guten Baukultur sehr wichtig. Nicht nur die Architekten sollen eine Vorstellung von guter Baukultur haben, ich sehe es als eine politische und eine gesellschaftliche Frage, wie dieses Ideal erreicht und weitergetragen werden kann. Bundesrat Alain Berset hat in seinem Präsidialjahr 2018 die europäischen Kulturminister zusammengerufen und die «Erklärung von Davos» verfasst. Es war ein europäisches Bekenntnis zur Baukultur. Und zwar nicht nur im Sinne, das baukulturelle Erbe zu erhalten, sondern auch, das zeitgenössische Bauschaffen zu fördern. Mittlerweile hat die Baukultur in die Kulturbotschaft des Bundesrates Eingang gefunden. Daraus leite ich die Aufgabe ab, eine gute Baukultur im Kanton Zürich zu fördern. Der Kanton hat hier eine Vorbildfunktion wahrzunehmen.

Was ist unter dem Begriff der Baukultur zu verstehen?

Baukultur umfasst alles, was der Mensch im Raum verändert; was wir bauen, konstruieren oder erschaffen – vom Gebäude bis zur Autobahn. Die Baukultur meint die Verantwortung für die Qualität der gebauten Umwelt und umfasst auch den Städtebau und die Raumplanung, sowie die Planungs- und Wettbewerbskultur. Ein gut geplantes Gebäude kann die Identität eines ganzen Quartiers mitprägen. Wir als Kanton wollen da ein Vorbild sein. Natürlich gelingt eine positive Prägung bei einer Kantonsschule vielleicht eher als bei einem Werkhof. 

Wie setzen Sie das im Kanton Zürich um?

Wir haben einen Leitsatz, welcher in den nächsten Wochen in der Eingangshalle des Hochbauamts angebracht wird: «Nachhaltigkeit prägt Baukultur». Dieser Satz vereint zwei Themen, die oft als Gegensätze angesehen werden. Man zweifelt daran, dass nachhaltige Bauten auch schön oder repräsentativ sein können. Ich bin der Ansicht, dass das sehr gut geht. Die Nachhaltigkeit wird uns in den kommenden Jahren beschäftigen. Vielleicht kehren wir sogar zur Holzbauweise zurück und bauen das nächste Gymnasium in Holz. 

Das Hochbauamt beschäftigt sich jedes Jahr mit etwa 700 Projekten. Das Bauvolumen liegt über 650 Millionen Franken jährlich. Welchen Stellenwert haben da die Kantonsschulen, die in den kommenden 12 Jahren saniert werden?

Sie sind vom Volumen her mittelgrosse Projekte. Aber sie haben eine grosse gesellschaftliche Bedeutung. Das mag pathetisch klingen, aber wir bauen für die Jugend. Ich war selber einmal Gymnasiast und ging fünf Jahre an die Kantonsschule Enge. Deshalb ist es für mich eine schöne Aufgabe, dass ich diese Schule Jahrzehnte später sanieren und umbauen darf. Das steckt auch Herzblut drin, haben mich die Räume in der Kantonsschule von Jacques Schader damals doch sehr geprägt. Wir setzen aber nicht jedes Jahr 700 Projekte um, die meisten Projekte begleiten wir über Jahre. 

Welche dieser 700 Projekte sind für Sie denn die wichtigsten?

Die verschiedenen universitären Bauten und das Bestreben, die verschiedenen Standorte zu zentralisieren. Ein ganz wichtiger Bau in der Stadt Zürich wird das UZH-Forum der Basler Architekten Herzog und de Meuron sein, welches neben der heutigen Rechtswissenschaftlichen Fakultät gebaut werden soll. Dieses wird das Hochschulquartier prägen. Aber es gibt auch Dinge, die unprätentiöser sind, wie etwa die Sanierung des Rathauses in Zürich. Das ist ein kleines Projekt von vielleicht zehn bis zwölf Millionen, aber politisch natürlich sehr wichtig. 

Es gab Überlegungen, das Rathaus an einem anderen Ort neu zu bauen. Sie hätten das sehr gerne gemacht. 

Natürlich, das Rathaus als historischer Bau genügt den heutigen Ansprüchen mehr schlecht als recht. Es ist zu klein. Wir haben Probleme mit den Fluchtwegen, dem Brandschutz und so weiter. Wir hatten uns mit der Idee eines modernen Rathauses beschäftigt und verschiedenen Standorte in der Stadt Zürich geprüft. Doch es fehlte der politische Wille für ein neues Rathaus. Das bedaure ich, weil ich einen Neubau als Chance für die beiden Parlamente aber auch für die Vernetzung von Politik und Zivilgesellschaft gesehen hätte.

Wie gross ist ihr Spielraum im Allgemeinen. Ist die Politik offen für visionäre Ideen?

Die Offenheit ist überraschend gross. Als ich Kantonsarchitekt im Kanton Basel-Land war, waren die politischen Widerstände grösser und die finanziellen Freiheiten mehr eingeschränkt.

Nun sind Sie für die öffentlichen Bauten in jener Stadt zuständig, in der sie aufgewachsen sind. Wie ist das?

Als Kantonsbaumeister bin ich für die kantonalen Bauten im ganzen Kanton zuständig. Zürich ist meine Geburtsstadt; hier bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Zürich ist Kantonshauptstadt und Sitz der kantonalen Verwaltung. Ich glaube, der Bezug zu Stadt und Kanton Zürich und seiner Geschichte ist wichtig für meine Tätigkeit. Das vereinfacht vieles. Und es freut mich sehr, hier tätig zu sein. 

Sie traten Ihre Stelle unter Regierungsrat Markus Kägi an. Dann wurde Martin Neukom von der sogenannten Grünen Welle bei den Wahlen in die Baudirektion gespült. Was hat sich für Sie verändert?

Ich war zuerst skeptisch. Der Wechsel kam einem Paradigmenwechsel gleich. Vom gestandenen erfahrenen, konservativen SVP-Politiker zum jungen, aufstrebenden Grünen, der vom Alter her mein Sohn sein könnte. Martin Neukom vertritt natürlich andere Werte als sein Amtsvorgänger. Aber meine Bedenken lösten sich rasch auf. Ich arbeite sehr gerne mit ihm. Er bringt Impulse und einen frischen Wind in die Baudirektion. Fragen der Nachhaltigkeit beim Bauen, die für uns immer schon eine Rolle gespielt haben, bekommen nun eine noch grössere Bedeutung. 

Man hört, Herr Neukom stosse bei der Verwaltung auf Widerstände.

Das kann gut sein. Er ist von einem kleinen Unternehmen gekommen und führt heute eine Direktion mit über 1700 Mitarbeitenden und sechs Ämtern mit unterschiedlichen Interessen und Aufgaben. Als er im vergangenen Mai sein Amt als Baudirektor angetreten hat, war es ein Kaltstart und er hatte kaum Zeit sich einzuarbeiten. Und dafür verdient er meinen Respekt. Nebst diesen Herausforderungen, hat er es geschafft, noch seine Dissertation fertig zu stellen.

Sie selber waren zuletzt in der Privatwirtschaft bei Losinger Marazzi. Ich könnte mir vorstellen, da geht vieles etwas schneller voran?

Losinger Marazzi gehört zur Bouygues Gruppe mit Hauptsitz in Paris. Viele Entscheidungen werden in der Zentrale getroffen. Das geht nicht unbedingt schneller. Natürlich sind wir beim Kanton dem Submissionsrecht unterstellt und es gibt im Umgang mit den Mitteln mehr Einschränkungen. Es fehlt das unternehmerische Denken in der Verwaltung und die Risikobereitschaft ist kleiner. 

Man hört immer wieder, Private würden billiger bauen als der Kanton.

Möglicherweise billiger, das mag sein. Aber nicht zu einem besseren Preis-Leistungsverhältnis. Der Kanton schreibt alle Dienstleistungen in Konkurrenz aus. Wenn wir ein Gymnasium planen, so wird das für 60 Jahre ausgelegt. Es muss flexibel gedacht und erweiterbar sein. Das ist etwas anderes als das rasche Hochziehen einer Wohnsiedlung in Schwamendingen. Tausende von Schülerinnen und Schüler gehen über Jahrzehnte durch das Gebäude und werden durch dieses auch geprägt. Es ist nicht die Aufgabe des Staates billig, sondern kostenbewusst und der Bauaufgabe angemessen zu bauen.

Auch sie hat die Kantonsschule Enge geprägt, wo Sie fünf Jahre lang ein und aus gegangen sind.

Es ist eine grosse Freude, mich heute mit dieser Schulanlage zu beschäftigen. Der Bau auf dem Freudenberg ist das Hauptwerk des Architekten Jacques Schader. Ich bewundere ihn sehr dafür, auch wenn man heute von der Baukonstruktion das eine oder andere anders machen würde. Ich habe als Schüler nie verstanden, warum wir nicht auf das Dach durften oder warum es ein Problem ist, wenn zu viele gleichzeitig auf den filigranen Treppen stehen. Heute weiss ich warum. 

Sie haben die statische Situation angesprochen. Was ich noch in Erinnerung habe, ist die klimatische Situation in den Schulzimmern. Energetisch ist die Schule nicht gerade auf den neusten Stand.

Das werden wir komplett ändern. Wir haben heute natürlich auch andere Möglichkeiten als sie Schader 1959 hatte. Deckenheizungen würden wir heute nicht mehr machen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Schulanlage sehr modern ist und wir ihren architektonischen Ausdruck und den gestalterischen Anspruch beibehalten werden. Etwa die Lichtführung: Die Fensterwand auf der einen Seite und das Oberlicht auf der anderen Seite. Das ist für eine Schule ideal, weil sie weder als Links- noch als Rechtshänder einen störenden Schattenwurf haben. In diesem Bau steckt sehr viel Wissen und das wollen wir erhalten und weitertragen. 

Wie grundlegend wird denn diese Gesamterneuerung der Kantonsschule Enge?

Die Sanierung der Schule wurde etwas vernachlässigt, deshalb werden wir viel machen müssen. Wir sind mit der Aula und dem naturwissenschaftlichen Trakt heute schon dran. Die Eingriffstiefe im Rahmen der Gesamterneuerung ab 2029 wird gross sein. Wir erneuern nicht nur die Fenster oder machen eine Asbestsanierung, sondern greifen in die Substanz der Gebäude ein.

Wird der markannte Bau auch nach 2032, wenn er fertig gebaut ist, noch zu erkennen sein?

Auf jeden Fall. Die Schulanlage wird dann fast genau gleich aussehen wie heute. 

Dann sind sie wohl nicht mehr Kantonsbaumeister.

Ich weiss nicht genau, wo dann das Rentenalter sein wird. Aber ich gehe schon davon aus, dass ich dann wohl zu jenen Rentnern gehöre, die den Umbau der Kantonsschule Enge durch die Löcher in der Bauwand verfolgen werden. (lacht) Als Kantonsbaumeister ist man ein Glied in einer Kette mit anderen Baumeistern vor und nach einem und erlebt nicht alle Baufertigstellungen im Amt. Aber wenn ich Glück habe, werde ich zur Eröffnung noch eingeladen und darf mit einem Glas Wein auf die erneuerte Schule anstossen.

Sie werden dann auf eine Schule anstossen, die sie geprägt hat. Sie haben gesagt, sie hätten nicht zuletzt wegen des inspirierenden Umfelds in der Kantonsschule Enge Architektur studiert. Nun bauen sie die Enge um. Der Kreis schliesst sich gewissermassen. Welche Erinnerung haben sie sonst noch, wenn sie an ihre Schulzeit zurückdenken?

Im Gedächtnis geblieben ist mir eine Schrecksekunde in der Mathematikstunde an einem Nachmittag im Sommer. Es war sehr heiss, die Schiebefenster waren alle offen und die Storen unten. Der damalige Mathematiklehrer, Herr Fischer hiess er, ein etwas beleibterer Herr,  hatte die Angewohnheit, sich auf das Fenstersims zu setzen und gegen das Fenster zu lehnen. So sass er auch an jenem Nachmittag am Fenster und lehnte sich zurück, weil er dachte, das Schiebefenster sei geschlossen. Es war aber wie erwähnt ganz offen. Unser Mathematiklehrer wäre beinahe aus dem Fenster gefallen. Er wurde nur noch von den Storen gehalten. Gottseidank ist er nicht hinuntergestürzt. Im ersten Moment lachten wir noch, dann aber erschraken wir darüber, was hätte passieren können. Herr Fischer überspielte diesen Vorfall in einer Art und Weise, wie das wohl nur ein Lehrer kann, der seinen Beruf schon viele Jahre lang ausübt. (lacht)  

Zur Person

Thomas Jung (56) ist im Kreis 10 in Zürich aufgewachsen und lebt heute in Zufikon (AG). Er ist verheiratet. 1984 absolvierte er an der Kantonsschule Enge die Matura und studierte dann Architektur an der ETH Zürich und Rechtswissenschdaften an der HSG in St. Gallen. Bis 2012 leitete er das Hochbauamt der Stadt Dübendorf und später die Hochbauabteilung der Stadt Dietikon. Danach war er bis 2015 Kantonsarchitekt des Kantons Basel-Landschaft. Nach einem zweijährigen Ausflug in die Privatwirtschaft beim Bauunternehmen Losinger Marazzi wurde Jung im Januar 2019 zum neuen Zürcher Kantonsbaumeister ernannt.

Verein Ehemaliger der Kantonsschule Enge | Steinentisschstrasse 10 | 8002 Zürich