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Portrait Susann Wintsch

Es muss nicht immer akademisch sein

Die Ehemalige Susann Wintsch (M87) ist Kuratorin für zeitgenössische Kunst aus Westasien, Forscherin, Dozentin und Autorin.

Text: Céline Schwarz (M20, celine.schwarz@ken-ve.ch)

Ihr Leben dreht sich um Kunst. Sie ist keine Künstlerin, denkt aber über Kunstwerke nach. Sie erforscht die zeitgenössische Kunst aus dem globalen Süden, jenseits Europas oder des Westens. Wo, mit wem und in welcher Institution ist von Fall zu Fall anders. Susann Wintsch (M87) weiss, welchen Weg sie für welches Projekt einschlagen will. Einen ausgefeilten Plan, der die verschiedenen Stationen in ihrem Leben im Voraus definierte, hatte sie jedoch nicht. Vielmehr öffneten sich im Zuge einer Projektorganisation die Türen für die nächste, und so hat sie die dort liegenden Möglichkeiten beim Schopf gepackt.

Angefangen hat alles im Zürcher Unterland. Im Bezirk Affoltern, genannt «Säuliamt», verbrachte sie ihre ersten 15 Jahre. Die Gymizeit danach war eine befreiende Erfahrung. Der schulische Umzug in die Kantonsschule Enge bedeutete, sich neu erfinden zu können, die Freunde und Freundinnen auszuwählen und in den unendlichen Wissenspeicher der Stadt versinken zu können.

Assistenz für Heidi Bucher

Nach der Matur folgte sie dem Wunsch ihrer Eltern und absolvierte den «Kaufmännischen Bildungsgang für Maturitätsabsolventen» bei der Zürcher Kantonalbank. Kurz vor Abschluss jedoch sprang ihr ein Inserat der Winterthurer Künstlerin Heidi Bucher ins Auge. Sie suchte eine Assistenz. Es waren nur drei Zeilen, und doch lag darin gewissermassen die ganze Zukunft. Wintsch brach ihre Ausbildung ab und arbeitete die beiden Folgejahre für die Künstlerin. Mit ihr reiste sie schliesslich auch nach Lanzarote. In den sorgfältig gepflegten Fincas, die Heidi Bucher auf der Insel besass, mieteten sich Künstler und Künstlerinnen ein. Als Bucher zurück in die Schweiz reiste, blieb Susann Wintsch, freundete sich mit den Künstlern und Künstlerinnen an und kuratierte schliesslich ihre erste Ausstellung mit einem kleinen Katalog in Teguise. Danach war klar: Sie wollte in Zürich Kunstgeschichte studieren.

Frauendenkmäler in Zürich

An der Kantonsschule Enge hatte sie das Neusprachliche Profil gewählt, und wählte als Folge die Vergleichende Literaturwissenschaft als Nebenfach für das Studium in Zürich. Verglichen mit der damals noch ausschliesslich akademisch gelehrten Kunstwissenschaft war Komparatistik ein Geheimtipp, der Experimente mit allen zeitgenössische Themen ermöglichte. Einen Lehrstuhl für zeitgenössische Kunst gab es damals noch nicht – die heutige Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) sei in diesem Bereich viel fortschrittlicher gewesen, sagt Wintsch. An der Universität haben sich damals alle, die von der zeitgenössischen Kunst begeistert waren, ihre Praxis selbst erarbeitet. Gegenwartskunst war sehr selten Thema. Der Aufgeschlossenste war der Professor für Mittelalter, Cornelius Clausen. Bei ihm konnte man auch Lizentiatsarbeiten über Gegenwartskunst schreiben.

Wegweisend war damals auch ein Kreis von Mitstudierenden, die sich mit den neuesten kunsttheoretischen und feministischen Schriften auseinandersetzten. Letztere war damals noch junge Disziplin im deutschsprachigen Raum. Wintsch freundete sich mit Irene Müller an, die heute ebenfalls als unabhängige Kuratorin arbeitet. Inspiriert von den Forschungen Sigrid Schades und Silke Wenks, die als Privatdozentinnen an der Uni Zürich lehrten, untersuchten die beiden Studentinnen den Bestand weiblicher Skulpturen in der Stadt Zürich. Eine Anfrage an die Denkmalpflege der Stadt Zürich war positiv, und so fuhren sie in ihrer Freizeit mit dem Velo durch den Stadtraum, um die Objekte zu finden, zu fotografieren und zu dokumentieren. Die Ergebnisse waren so aussagekräftig wie es zu erwarten war: Keiner einzigen bedeutenden Frau war ein Denkmal in Zürich gewidmet. Vorherrschend waren Skulpturen nackter junger Körper, symbolische Figuren oder Mütter mit Kindern. An diesem Bestand hat sich bis heute nicht viel verändert. Fünf gefüllte Ordner lieferten Wintsch und Müller der Stadt ab. Ausgelöst hatte diese Arbeit bei der Stadt wohl nicht viel. Doch für solche Nachhaltigkeit hatten die Studentinnen damals keine Zeit; das Studienleben neigte sich dem Ende zu, und unzählige andere, verlockende Möglichkeiten lagen in Reichweite. Kunst, das hat die Kuratorin aber damals gelernt, zeigt keine bessere, gerechtere Welt, sondern ist ein genauer Spiegel der Gesellschaft. Bis heute sind Werke von Künstlerinnen massiv unterbewertet. Dies sieht man nicht nur bei den Ausstellungsbeteiligungen, Stipendien und Werkpreisen, sondern auch buchstäblich bei den Preisen auf dem Markt und auf Auktionen.

Dozieren und forschen

Nach dem Lizentiat folgte die Zeit der unabhängigen Projekte. Mehr und mehr galten sie der Gegenwartskunst ausserhalb Europas. Als Kuratorin der Kunsthalle Palazzo in Liestal lernte sie Hanspeter Giuliani und Hildegard Spielhofer kennen. In ihrer Firma «Tweaklab» wollten die beiden die DVD als künstlerisches Werkzeug in ihr Angebot einführen. Zu dieser Zeit beobachtete Susann Wintsch das Phänomen der Ausstellungen, die Kunst aus dem Balkan und dem Ostblock vorstellten. Sie waren spannend und neu gewesen, jedoch sehr von westlichen Erwartungen an diese Länder und ihre Künstler und Künstlerinnen geprägt. Kuratoren und Kuratorinnen hätten, bewusst oder unbewusst, von ihnen stets erwartet, dass sie die politische Situation in ihrem Land erklären. Kein Mensch sah dies auch als die Aufgabe von Schweizer Künstler und Künstlerinnen. Man wollte immer einfach Kunst. So soll es überall sein. In diesem Zusammenhang traf Susann Wintsch auf die serbische Künstlerin Milica Tomic, reiste mit ihr durch das ehemalige Jugoslawien, und produzierte, um den Bogen zu schliessen, das erste DVD-Magazin «Compiler» im Rahmen eines Forschungsprojektes der Kommission für Technologie und Innovation (KTI).

Parallel begann Wintsch mit ihrer Lehrtätigkeit an der ZHdK, wo sie im Departement «Kulturanalysen und Vermittlung» zeitgenössische Kunst rund um den Globus, Kunstgeschichte und Kunsttheorie unterrichtete, dies zuerst in kleinen, dann immer grösseren Pensen. 

Treibsand

Die Wege des Trios trennten sich: Während Giuliani und Spielhofer weiterhin Kuratoren und Kuratorinnen für die Produktion einer neuen DVD beauftragten, nannte Susann Wintsch ihr kuratorisches Label Treibsand und unternahm wie bisher ausgedehnte Recherchen, zuerst in der Kunstszene Teherans, dann Istanbuls. In enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin Parastou Forouhar und der Künstlerin Necla Rüzgar kuratierte sie je eine DVD zur Gegenwartskunst aus dem Iran respektive der Türkei. Seit dem Verschwinden der DVD zeigt sie Videoarbeiten, aber auch eigens gefilmte Studiofilme und Interviews, auf der Webseite www.treibsand.ch.

Eigener Verein

Im Jahr 2019 beendete Susann Wintsch ihr Arbeitsverhältnis an der ZHdK. 15 Jahre Unterricht waren mehr als genug. Nun widmet sie sich ganz ihren kuratorischen Tätigkeiten. Die Entscheidung gegen die Sicherheit und für die völlige Freiheit kennen viele Kunstschaffende, vor allem auch bildende Künstler und Künstlerinnen. Sie dozieren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, weil sie nicht von ihrer Kunst leben können. Mittlerweile wurde Treibsand zu einem gemeinnützigen Verein, 2019 gegründet von Wintsch und der in Afghanistan geborenen Künstlerin Jeanno Gaussi. Das neueste Ausstellungsprojekt heisst «The Other Kabul» und entwickelt Kunst als Möglichkeit einer «anderen Vorstellung der Welt, ohne die gegenwärtigen Krisen unter den Teppich zu kehren». In Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlerinnen, unter anderem aus Afghanistan, soll es in «The Other Kabul» auch Raum für Poesie, die Schönheit, die Utopie geben. Vielleicht können jene, die mitten in der Krise auf eine andere Zukunft zu blicken in der Lage sind, etwas von diesen Künstler und Künstlerinnen lernen. Natürlich stammen immer mindestens 50 Prozent der künstlerischen Arbeiten von Frauen. Das ist für Wintsch eine Selbstverständlichkeit.

Es geht weiter

Mittlerweile gibt Treibsand auch Kunstwerke in Auftrag und organisiert Ausstellungen in grossen Museen, so 2016 die zeitgenössischen Arbeiten in «Sehnsucht Persien» im Museum Rietberg, oder eine Ausstellung zu Kunst aus Palästina im Jahr 2016 im Forum Schlossplatz Aarau. Die Ausstellung «The Other Kabul» wird im Jahr 2022 im «Kunstmuseum Thun» gezeigt werden. Die Mittelbeschaffung für die Produktion von Werken ist allerdings mit mehr Aufwand und finanziellen Mitteln verbunden als bei den DVD-Magazinen. Das Fundraising für die Auftragswerke von «The Other Kabul» ist deshalb in vollem Gange.  

Spenden für das Projekt «The Other Kabul» werden auf www.treibsand.ch gerne entgegengenommen.

Verein Ehemaliger der Kantonsschule Enge | Steinentisschstrasse 10 | 8002 Zürich